Unglaublich facettenreicher Roman

Rezension in Text 📝 [↓] & Ton 🔊 [ ↳ ]

📝 Inhalt

Mia geht nach Sevilla zurück und damit mitten hinein in acht Jahre alte Erinnerungen: Sie hat damals ein Au-pair-Jahr dort verbracht und sich in Rafa verliebt. Die Rückkehr erfolgt, als sie an ihrem 27. Geburtstag feststellen muss, rundum unzufrieden mit ihrem Leben zu sein. 

Überrascht muss sie nach der Ankunft in Sevilla erkennen, dass sie selbst sich verändert hat, ebenso wie die spanische Stadt, die nicht überall so wunderschön ist, wie sie ihr in Erinnerung geblieben ist. Ihr neuer Job bei der Zeitung erweist sich als erstaunlich schwierig, nicht nur, weil sie inzwischen gelernte Psychologin und nicht etwa Journalistin ist, sondern auch, weil ihr Chef sie mit seinem extrem sprunghaften Verhalten ausgesprochen irritiert. Dass sie ihn rein äußerlich sehr anziehend findet, macht die Situation nicht einfacher.

Es gelingt Mia nicht, ihrer eigenen Erwartungshaltung gerecht zu werden: Sie kann nicht einfach dort anknüpfen, wo sie Sevilla verlassen hat - da helfen auch die progressiv pink gefärbten Haare nicht. Inzwischen ist sie ein anderer Mensch geworden, hat sich, ebenso wie Land und Leute in Spanien, weiterentwickelt und muss feststellen, dass weder die von ihr betreuten Kinder dieselben geblieben sind, noch Rafa, dem sie tatsächlich wieder begegnet. Die junge Frau muss sich stellen, Standpunkte beziehen, auch wenn die dazugehörigen Entscheidungsprozesse ihr einiges abverlangen. Der spannende Liebesroman von Sigrun Dahmer begleitet Mia dabei auf ihrem äußeren und inneren Weg.

So wirkt der Roman auf mich

"Sommerküsse in Sevilla" von Sigrun Dahms klingt nach leichter Lektüre - aber der Eindruck täuscht: Der Roman hat es buchstäblich in sich. Die Autorin versteht es allerdings, trotz der zahlreichen Themenfelder, die sie aufgreift, die vielen Fäden geschickt und angenehm erzählt zu spinnen.

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• Spanien & Sevilla:

Zunächst einmal beschäftigt sich der Roman ganz gekonnt mit der Kulisse: Sevilla wird als Stadt in vielen einzelnen Facetten vorgestellt. Die Touristik kommt zur Sprache, Politisches, soziale Fragen, aber auch die großen religiösen Traditionen mit der Semana Santa in der Karwoche. Hier schreibt die Autorin ganz offensichtlich mit viel Sachverstand, vermutlich aus eigener Anschauung – und mit einer gehörigen Portion Spanisch. [Dem großen Latinum sei Dank kann ich das wenigstens einigermaßen verstehen.]

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• Psychologie:

Ein weiterer Schwerpunkt beschäftigt sich mit dem Thema Psychologie. Mia, die Hauptfigur des Romans, hat dieses Fach studiert und auch als Psychologin gearbeitet, selbst wenn ihr ihre Kurse in der Erwachsenenbildung mit dem Thema "Flirtberatung" selbst nie sonderlich zugesagt haben. Auch ihr Job bei der Zeitung in Sevilla bezieht sich teilweise darauf, dass sie Psychologin ist.

Mir persönlich haben die Zitate am Anfang eines jeden Kapitels sehr gefallen, die einen anleiten, den nachfolgenden Text aus einem bestimmten Blickwinkel der Psychologie zu betrachten. Das war teilweise witzig, manchmal sehr aufschlussreich und hat auch sicher zu neuen Betrachtungsweisen angeregt – zumindest mich.

Ich habe selbst ein kleines bisschen Psychologie studiert (1 Semester), dazu eine ganze Menge Verhaltensforschung, und finde es immer wieder witzig, Alltagssituationen unter den Kriterien zu betrachten und zu analysieren, die man dort erlernt. Die Autorin tut das ebenfalls, was für mich das Leseerlebnis sehr schön vertieft hat.

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• Wie "man/frau" mit Ende zwanzig sein sollte:

Ausgesprochen interessant finde ich die Auseinandersetzung mit dem, was ich einmal "aktuelle Glücksideologie" nennen möchte: Mit Ende 20 gehören eine stabile Partnerschaft sowie ein Beruf mit Aussichten auf Erfolg einfach dazu, um positiv wahrgenommen zu werden – und offenbar auch, um sich selbst positiv wahrnehmen zu können. Mia  vergleicht sich mit Sophie, ihrer langjährigen Freundin, die verheiratet ist, wahrscheinlich mit ihrem Partner versucht, das erste Kind zu zeugen und als Lehrerin arbeitet - an den Diskrepanzen hinsichtlich  ihres Standpunkts im Leben droht die Freundschaft sogar zu zerbrechen. Mit 27 hat Mia eindeutig nicht die Lebensbilanz vorzuweisen, die ihr vorschwebt und die allgemein üblich scheint.

Interessant finde ich, dass sich zum Ende des Buches nicht wirklich eindeutig klärt, ob Mia mit dieser allgemeinen akzeptierten Glücksideologie tatsächlich ganz bewusst einverstanden ist oder ob sich ihr Leben eher zufällig in diese Richtung entwickelt: Da wird nicht mehr gewertet – weder vonseiten der Autorin noch lässt sie ihre Protagonistin urteilen. Ungewöhnlich!

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• Coming of Age

Ganz sicher ist das Werk auch ein Coming-of-Age-Roman und beschreibt die vielen kleinen Schritte, die zum sog. Erwachsenwerden beitragen bzw. beitragen können. Ich werde 60 dieses Jahr. Vom sog. Erwachsenwerden verstehe ich also inzwischen etwas - altersbedingt. Bin mit dem Prozess längst noch nicht fertig, hoffe aber inständig, dass ich nie so erwachsen werde, dass mir der Sinn für Unfug oder Spontanes abhandenkommt.

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• Beziehungen

Sigrun Dahmer beschreibt außerdem in ihrem Werk die unterschiedlichsten Arten von Beziehungen: zwischen Freunden, zwischen ehemaligen Partnern, Bekanntschaften, eine entstehende Paarbeziehung, die Beziehung zu ehemals Schutzbefohlenen, nämlich den Kindern, die Mia als Au-pair betreut hat. Außerdem werden interessante Schlaglichter geworfen auf das Verhältnis von Chefs zu ihren Untergebenen und die unterschiedlichen Stile, solche Kontakte auszugestalten. All das liest sich interessant und trägt dazu bei, dass der Roman Tiefgang erhält.

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• Drogen

Offensichtlich mit Sachverstand und Sachkenntnis wird auch mehr als ein Blick auf das Themengebiet Drogenkonsum geworfen. Der Roman beschäftigt sich u. a. damit, unter extremem Leistungsdruck stehende Schüler zu betrachten, die glauben, sich lediglich unter dem Einfluss von Drogen diesem Druck stellen zu können. Außerdem werden Hilfsmaßnahmen ebenso wie Hilfsprojekte für Drogenabhängige skizziert.

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• Umziehen

Umziehen im großen Stil nennt man Auswandern. Das fordert. Der Roman beschreibt aus psychologischer Sicht die verschiedenen Phasen eines solchen Unterfangens - wir sind als Menschen ja nicht halb so originell, wie wir oft vermuten:  Wissenschaftlich hat man inzwischen gut beschrieben, was sich während einer solchen Phase des "Sich-Verpflanzens" in Personen abspielt - interessant zu lesen!

Fazit

Insgesamt habe ich das Buch mit großem Interesse gelesen. Die zahlreichen Themenfelder, die hier angesprochen werden, fordern die Aufmerksamkeit beim Lesen immer wieder neu, ohne dass dadurch der Lesefluss leidet; vielmehr wird das Interesse ständig gekonnt aufrechterhalten. Die Story wirkt plausibel, die Figuren machen auf mich einen stimmigen Eindruck. Dieser Roman bietet eindeutig mehr, als man von der üblichen seichten-leichten Strandlektüre erwartet. Empfehlenswert! Daher gerne ✪✪✪✪✪.